Benutzer Diskussion:Claudia Nagel

Aus Modellbau-Wiki
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Der Streit um die sogenannte "Modelltreue" der Bing-Tischbahn Spur 00 ist ein Streit um des Kaisers Bart!

Will man der Gestaltung dieser Bahn gerecht werden, so muß man sie in ihrem gesellschaflichen und historischen Zusammenhang betrachten. Eine retrospektive Bewertung aus heutiger Sicht ist völlig unangemessen und zeigt einen bedauerlichen Mangel an Kenntnis der Verhältnisse um 1920. Daher halte ich es nicht für legitim, den Konstrukteur und Designer Stefan Bing und sein Tischbahn-Projekt außerhalb ihres kulturhistorischen Kontextes zu beurteilen.

Als Bing diese Bahn 1922 auf den Markt brachte, waren innovative Architekten und Designer tonangebend, die dann in den modernen Lebensstil des "Bauhauses" einmündeten. Ihr Postulat "Die Form folgt der Funktion" bestimmte die zeitgenössischen Entwürfe. Auch Stefan Bing folgte diesem Trend und zeigte sich damit hochmodern.

Was also wollte die Bing-Tischbahn sein? In erster Linie eine funktionale, d.h. leicht zu handhabende Spielbahn für die ganze Familie. Dieser Funktion ordnete sich also die Form, d.h. das gesamte Design der Bahn unter. Für Kinder und Erwachsene war die Dampfeisenbahn damals ein wohlbekannter und integraler Bestandteil ihres Lebens. Sie übte eine solche Faszination aus, daß spontane Spielwünsche entstanden.

Auf dem Eßtisch rasch eine Spielbahn aufzustellen, zu fahren und auch ebenso rasch wieder zusammenzupacken, war in den größeren Spuren nicht möglich. Es ist das Verdienst der Firma Bing, ein solches System praktikabel entwickelt zu haben. Dabei war Modelltreue weder beabsichtigt noch überhaupt angedacht - ganz im Gegenteil!

Der Wiedererkennungswert einer "Lokomotive" reduzierte sich auf eine einfache Form. Die Zuordnung dieser Form in die tägliche Lebenswelt wurde mittels identifizierender Farbgebung gewährleistet. Ebenso verhielt es sich mit den Anhängern. Die Form "Anhänger" wurde erkannt und die Zuordnung geschah aufgrund der Bedruckung. Auch alle anderen Zubehörteile wie Tunnel, Haltepunkt, Station, Signalhaus, Signale und Telegrafenmasten wurden bewußt auf ihre Grundform reduziert. Das gleiche betrifft das Schienenmaterial samt Drehscheibe, Übergang und Prellbock. Eine Eisenbahn fuhr auf Schienen und die lagen auf einer Böschung. Das Bing'sche Böschungsgleis erfüllte wiederum in der Form die Funktion und entsprach damit der Intention des modernen Designs.

Doch die Gedanken des Bauhauses richteten sich nicht nur auf die funktionale Gestaltung, sondern auch auf ökonomische Produktion. Dadurch sollte einer breiten Bevölkerung die Zugänglichkeit zu den Produkten ermöglicht werden. Auch diesen Gedanken griff Stefan Bing auf und reduzierte die Grundformen seiner Tischbahn auf wenige Teile. So war eine kostensparende Produktion möglich, die es jedermann anheim stellen sollte, eine Modelleisenbahn zu erwerben. Deshalb müssen wir Stefan Bing und seine Tischbahn als höchst moderne Kinder ihrer Zeit begreifen!

Doch der politische und weltanschauliche Wandel dieser Zeit machte den hochfliegenden Plänen der Dessauer und Erfurter Designer ein Ende. Mit Beginn des Dritten Reiches galten nun andere ästhetische Ideale, deutlich zu sehen an den detailverliebten Kolossalbauten der Nazis. So ist es auch historisch verständlich, daß die (jüdische) Firma Bing zugrunde ging.

Stefan Bing ließ sich aber nicht beirren. Er emigrierte nach England und setzte seine Entwürfe bei Trix fort. Wie überzeugend die Bauhaus-Ideen waren, läßt sich daran erkennen, daß Märklin die Spur 00 zunächst nur "abkupferte", bevor in neuem politischen Wind die Entwicklung zu Detailtreue und Modellvielfalt einsetzte.

Ein interessantes, aber zugegeben rein akademisches Denkspiel ist es, sich vorzustellen, welchen Weg die Entwicklung der Spur 00 zu H0 wohl gegangen wäre, wenn es das Dritte Reich nicht gegeben hätte und damit der gewaltige Aderlaß an Kreativität unserem Volke nicht angetan worden wäre....

So bleibt uns nur festzuhalten, daß Stefan Bing 1922 ein "trendsetter" gewesen ist, der "lifestyle" geboten hat. Die kurze Produktionszeit der Bing-Tischbahn und die vielen Verluste während der Kriegszeit haben uns hier ein Sammelgebiet von außerordentlicher Rarität geschaffen.